Seit Menschengedenken tanzen die Menschen. Je weiter wir zurückdenken, desto ursprünglicher begegnet uns der Tanz als Vermittlung zwischen Körper und Raum, zwischen Innen und Außen, zwischen Menschlichem und Göttlichem. [42]
Diese Beziehung erscheint in zwei polar entgegen gesetzten Formen, der apollinischen und der dionysischen.
Im dionysischen Tanz liegt der Ansatzpunkt im Körper, aus dem heraus eine Verbindung mit dem Raum gestaltet wird. Im apollinisch geordneten Tanz kommen die Gestaltungsimpulse aus dem Ganzen, aus dem Raum.
Rudolf Steiner hat die Eurythmie zunächst dionysisch veranlagt, später um das Apollinische erweitert.
1912 hielt Rudolf Steiner den ersten Kurs für die zukünftigen Eurythmistinnen:‚Das dionysische Element’.
Dionysos ist der griechische Gott der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus, des Weines, des Rausches und der Extase; seine Gefolgschaft sind die Mänaden und Satyrn. Im Dionysos-Kult wird die Vereinigung mit dem Gott durch Extase erreicht.
Dionysos steht für die Kraft, die den Körper des Menschen in Bewegung bringt.
1915 kommt der zweite Kurs ‚Das apollinische Element’ hinzu. Apollo ist der griechische Gott der Musik, des Lichts, der Dichtung. Es ist der Gott, der die Seele des Menschen beeindruckt. ‚Apollinisch’ gewann dann die Bedeutung von: maßvoll, zu Ordnung und Schönheit gebändigt, im Gegensatz zum Überschwänglichen des Dionysischen.
Apollinisch ist, wenn das Äußere, die Welt, einen Eindruck auf mich macht.
Ich bringe im Innern die Welt zum Erlebnis. (Wir haben bis jetzt buchstabiert. Jetzt werden wir zu dem bereits Gelernten dasjenige hinzufügen, was die Sache verinnerlicht…) [43]
Es ist Verinnerlichung, wenn ich den Eindruck des Äußeren im Inneren erlebe und verarbeite.
Bis ins Körperliche kann ich äußere Ordnungsgesetzte aufnehmen. (z.B. die Stellungen von Agrippa). Mein Körper wird vom Raum aus ergriffen.
Ich füge meine Bewegung in die Kräfteordnungen, die in der Welt herrschen, ein.
Etwas wird an mir sichtbar, ich antworte innerlich mit meinem Erlebnis.
Dionysisch ist, wenn mein Inneres zum Ausdruck kommen möchte, wenn ich etwas, was in mir als Kraft ist, nach außen in eine Form bringen möchte. Wenn ich meine Seele nach außen, in der Welt zur Offenbarung bringen möchte.
Es sind Grundhaltungen zweier Schaffensweisen, wie das impressionistische oder expressionistische Gestaltungsprinzip.
Apollinisch ist das impressive Element, wenn im Innern die Welt zum Erlebnis kommt, dionysisch ist das expressive Element, wenn die Seele zur Welt spricht.
Es sind Richtungen in der Wechselwirkung zwischen Seele und Welt, Verinnerlichung und Veräußerung.
Im Schnittpunkt der Begegnungen der von außen ordnenden Kraft und der von innen formenden Kraft entsteht ein eurythmisches Kunstwerk. Die Eurythmie ist eine dionysisch-apollinische Kunst!
I c h entscheide, wie die Begegnung zwischen Ordnung und Kraft ausfällt, i c h kann schöpferisch und kreativ sein, in der Vermittlung liegt die Kunst. Auf welchen der beiden Pole ich meinen Schwerpunkt setze, ist eine individuelle künstlerische Entscheidung.
Insofern wir von einer eurythmischen Bewegungskunst sprechen, benutzen wir unseren Körper und es beschäftigt uns die Frage: wie drücken wir mit unserem Körper etwas im Raum aus? Welche Möglichkeiten bietet der menschliche Körper, sich durch Bewegung in den Raum hinein zu gestalten, damit er etwas ausdrückt?
Es gibt ein Alphabet der sprechenden Bewegungen, ein Bewegungsvokabular, wenn ich etwas sagen will.
Dies Körper -Alphabet gehört keiner Richtung an, das gleiche Ausgangsmaterial wird benutzt, aber die Aussage ist individuell unterschiedlich.
Das Vokabular von Biegen, Beugen, Strecken, Dehnen, Ballen und Spreizen ist auf der leiblichen Ebene (physisch-aetherisch) immer gleich.
Auf der seelischen Ebene, bewege ich mich im dionysischen Kräftestrom, etwas aus meinem Innern möchte zum Ausdruck gebracht werden.
Und jetzt hängt das, was ich zum Ausdruck bringen möchte, noch davon ab, mit welchem Bewusstsein, mit welcher geistigen Intention meine Seele gestaltet wird und inwieweit etwas an mir sichtbar wird. (zum Beispiel, dass ich eine geistige Ordnung in meiner Seele erlebe und meinen Körper folgen lasse. Grammatik ist eine geistige Ordnung, ich muß sie aber als Eindruck erleben, in mir, um dann etwas davon auszudrücken.)
Das eurythmische Kunstwerk kann gelingen, wenn ich das Verhältnis dieser beiden Richtungen frei gewählt habe und die Führung dieses Verhältnisses von innen und außen, von Körper und Raum niemand anderem als mir selbst überlasse.
Anmerkungen
42 Hans Paul Fiechter, Lyrik lesen, a.a.O., S. 192/193.
43 Rudolf Steiner, Entstehung und Entwicklung, a.a.O., S. 62. |